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Goethes Lyrik

Digitale Edition

Editionsgrundsätze

Ausgearbeitet 2023 von Gerrit Brüning in Zusammenarbeit mit Silke Henke

Erweitert 2025

Einteilung und Eingrenzung des Gegenstands

Lyrische Texte Goethes sind in den unterschiedlichsten Kontexten überliefert: Sie treten einzeln für sich, als Teil von Sammlungen sowie innerhalb von Dramen, Romanen, Erzählungen, autobiographischen, naturwissenschaftlichen und weiteren Schriften sowie in biographischen Zeugnissen auf. Gemäß der Überlieferungslage lässt sich der editorische Gegenstand folgendermaßen einteilen und eingrenzen.

1. Gedichtsammlungen in Gesamtausgaben

Den Großteil seiner Gedichte integrierte Goethe nach deren Entstehung in schrittweise wachsende Gedichtsammlungen, die er in allen rechtmäßigen Gesamtausgaben seiner Werke veranstaltete: beginnend mit den Göschenschen Schriften (Sigle: S, Bd. 8, 1789: Vermischte Gedichte), ergänzt um die Sammlung in den Neuen Schriften bei Unger (N, Bd. 7, 1800) und fortgesetzt in den Cottaschen Gesamtausgaben, mit denen die Gedichtsammlungen jeweils an den Anfang der Werkausgaben rücken (A, Bd. 1, 1806; B, Bd. 1 und 2, 1815 und C, Bd. 1–4, 1827/28).[1] Der Titel „Gedichte“ findet sich zuerst als Titelteil in S („Vermischte Gedichte“) sowie in Goethes sonstigem Sprachgebrauch.[2]

2. Gedichtsammlungen außerhalb der Gesamtausgaben

Der ersten Gesamtausgabe gingen kleinere Sammlungen partiellen Charakters voraus (Annette 1767, Neue Lieder 1769). Die handschriftliche erste Weimarer Gedichtsammlung (1778) diente als eine der Hauptquellen für die Sammlung der Vermischten Gedichte von 1789. Neben dieser entstand in der nachitalienischen Zeit eine Reihe von Gedichtcorpora, die schon in ihrem Ursprung als Gedichtsammlung angelegt waren und deren Einzelgedichte als Teil der jeweiligen Sammlung entstanden (Römische Elegien 1789, Venezianische Epigramme 1790, Xenien 1796).

3. Gedichte außerhalb der Gedichtsammlungen

Einige Gedichte erschienen ebenfalls schon zu Lebzeiten, aber aus unterschiedlichen Gründen abseits der genannten Sammlungen: in anderen Bänden der Gesamtausgaben, in Periodika oder als Einblattdrucke.

4. Gedichte aus dem Nachlass

Weitere Gedichte blieben zu Lebzeiten ungedruckt, weil Goethe sie nur handschriftlich an ihm nahestehende Personen schickte, seinem Umfeld mitteilte, für sich behielt oder unfertig ließ, so dass sie sich erst in Nachlässen vorfanden, darunter einige Gedichte des jungen Goethe und Briefgedichte.

5. Gedichte zweifelhaften Ursprungs

Eine kleinere Anzahl von Gedichten ist Goethe zugeschrieben worden, ohne in vom Autor veranlassten Drucken oder Handschriften Spuren hinterlassen zu haben. Infolgedessen bleibt deren Zuschreibung bis heute fraglich.

Die Gruppen 1–5 bilden gemeinsam die editionsgeschichtlich tradierte Einheit der ‚Gedichte‘ (WA I 1–5), da sie kommunizierend sind: Zu den Gedichten der Gruppe 5 fehlt eine authentische Überlieferung, andernfalls gehörten sie zu einer der Gruppen 1–4. Die Gedichte der Gruppe 4 blieben zu Goethes Lebzeiten unpubliziert; andernfalls gehörten sie zu 1–3.

6. West-östlicher Divan

Den Kern des Werks bildet die gleichnamige Gedichtsammlung. Als Einzeldruck unter dem gemeinsamen Titel „West-oestlicher Divan“ erschienen 1819 die Gedichtsammlung sowie der Prosateil Besserem Verständniß (mit weiteren Gedichten). Die Gedichtsammlung wurde in C 5 (1828) von 198 auf 241 Gedichte erweitert. Der Prosateil trägt in C 6 den Titel Noten und Abhandlungen.[3] Darüber hinaus gehören zum Komplex des West-östlichen Divans zahlreiche zu Lebzeiten ungedruckte Nachlassstücke, worunter sich neben Vorarbeiten verschiedenster Form auch mehr als 50 Gedichte befinden.

Eingrenzung der editorischen Einheit ‚Lyrik‘

Einige Texte Goethes weisen Gedichtcharakter auf, sind aber durch Entstehungskontext, Überschrift oder Zuordnung zu Rubriken als epische, dramatische oder zur theatralen Aufführung bestimmte Texte ausgewiesen. Ferner kommen gedichtförmige Texte innerhalb von epischen, dramatischen, autobiographischen und ästhetischen Schriften vor, ohne zugleich als Gedicht (eigenständig oder als Teil von Gedichtsammlungen) überliefert zu sein. Gemäß dem Überlieferungskriterium und in Einklang mit der editorischen Tradition stehen diese Texte außerhalb des Projektgegenstands. Deren editorische Bearbeitung ist gesonderten Projekten zu den jeweiligen Werken vorbehalten.

Dokumentation der Überlieferung

Aufnahme von Zeugen

In die Edition aufgenommen werden alle textkritisch relevanten Zeugen (Handschriften und Drucke):

  1. Handschriften, die der Autor selbst angefertigt oder bearbeitet hat oder die auf seine Veranlassung hergestellt wurden,
  2. Handschriften, die nicht unter 1 fallen, die aber direkt oder indirekt von nicht erhaltenen Handschriften abstammen, die vom Autor angefertigt oder bearbeitet wurden (sog. Stellvertreterzeugen, z.B. fremdhändige oder spätere Abschriften, Faksimiles etc.),
  3. Drucke, die rechtmäßig sind, vom Autor veranlasst oder beeinflusst wurden,
  4. Drucke, die keins der unter 3 genannten Merkmale aufweisen, die aber von einer nicht erhaltenen Handschrift gem. Nr. 1 oder einem nicht erhaltenen Korrekturexemplar abstammen,
  5. Drucke, die keins der unter Nr. 3 genannten Merkmale aufweisen, von denen aber eine Handschrift gem. Nr. 1 oder ein Druck gem. Nr. 3 abstammt,
  6. postum erschienene Drucke, die auf einen Auftrag des Autors zurückgehen oder deren Varianten Rückschlüsse für die Beurteilung von handschriftlichen Varianten zulassen könnten.[4]

Zu 1.: Mutmaßlich zeitgenössische Abschriften, bei denen sich nicht nachweisen lässt, ob sie die Kriterien nach Nr. 1 oder Nr. 2 erfüllen, werden zum Textvergleich vorläufig aufgenommen.

Zu 6.: Die Ausgabe Q sowie die betreffenden Bände in C (nachgelassene Werke) werden aufgenommen.

Spätere Editionen und Reproduktionen werden aufgenommen, wenn sie von einer nicht erhaltenen Handschrift gem. Nr. 1 abstammen.

Beschreibung der Handschriften

Die Beschreibung umfasst die wesentlichen physischen Merkmale der jeweiligen Handschrift sowie forschungsgeschichtlich relevante Nachweise:

  • Aufbewahrungsort (z.B. Goethe- und Schiller-Archiv) und (wenn nicht damit identisch) übergeordnete besitzhaltende Institution (z.B. Klassik Stiftung Weimar)
  • relevante Identifikatoren (Signaturen und Zeugensiglen)
  • Kurzbeschreibung der physischen Eigenschaften unter Benutzung der eingeführten archivalischen Termini[5]
  • Umfang in Blatt
  • Format (2°, 4°, 8° usw.); nur wenn kein reguläres Format vorliegt (Zettel, Streifen, Fragmente o.ä.), werden Blattmaße angegeben (Breite × Höhe in mm)
  • Foliierungen und Paginierungen
  • optional: Anmerkungen zum unmittelbaren Überlieferungszusammenhang
  • optional: Anmerkungen zum Erhaltungszustand
  • ggf. Angaben zur Erwerbung oder Provenienz
  • Klassifikation der Textüberlieferung gem. Arbeitsgrundsätzen des Goethe- und Schiller-Archivs
  • bibliographische Nachweise (Handschriftenbeschreibungen, Faksimiles, Forschungsbeiträge mit unmittelbarem Bezug auf das Objekt)

Beschreibung der Drucke

Die Beschreibung besteht aus folgenden Angaben:

  • Titelaufnahme mit Seiten- und Formatangabe
  • relevante Identifikatoren (Hagen-Sigle, Hagen-Nr., WA-Sigle etc.)
  • bibliographische Nachweise (wissenschaftliche Beschreibungen, Faksimiles, Forschungsbeiträge mit unmittelbarem Bezug auf den jeweiligen Druck)
  • Nachweis des in der Edition wiedergegebenen Exemplars
  • ggf. Nachweis weiterer für die Edition herangezogener Exemplare

Wiedergabe der Zeugen

Der in den Zeugen überlieferte und für die Edition relevante Text wird in Form von vollständigen Transkriptionen (nicht nur in Varianten) wiedergegeben. Die Transkription erfolgt zeichengetreu.

Im Einzelnen gelten folgende Festlegungen:

  • I und J sind in der deutschen Schrift nicht unterschieden. In der Transkription wird die Unterscheidung zwischen I und J gemäß Lautwert eingeführt. Die Unterscheidung zwischen i und j ist davon unberührt.
  • Öffnende Anführungszeichen werden unabhängig davon, ob sie auf der Grundlinie oder im oberen Band stehen, mit „ wiedergegeben. Schließende Anführungszeichen werden unabhängig von ihrer Position mit “ wiedergegeben.
  • s und ſ werden als s wiedergegeben. Die Kombination von ſs und sſ in lateinischer Schrift wird mit ß wiedergeben.
  • Das runde r (rotunda) in der Verwendung als tironisches „et“ () wird mit dem Unicode-Zeichen U+A75B „ꝛ“ wiedergeben („ꝛc“ für „etc“).
  • Abkürzungen werden aufgenommen und als solche gekennzeichnet. Wiederkehrende Abkürzungen werden in einer übergreifenden Liste, seltene oder vom Kontext abhängige an Ort und Stelle aufgelöst.
  • Alle Zeugen werden in unemendierter Form wiedergegeben. Offensichtliche, auch sinnentstellende Schreib- und Satzfehler bleiben gewahrt. Versehentlich ausgelassene Zeichen und Wörter werden nicht ergänzt.

Speziell in Handschriften gelten folgende Festlegungen:

  • Eindeutige Groß- und Kleinschreibungen bleiben gewahrt. Bei graphischer Ununterscheidbarkeit von Groß- und Kleinschreibung werden die Zeit- und Schreiberkonventionen berücksichtigt.
  • Zusammen- und Getrenntschreibung bleibt gewahrt.
  • Kontraktionen („ans“, „aufs“, „ins“ usw.) und Komposita mit kleingeschriebenem zweiten Kompositionsglied werden zusammengeschrieben wiedergegeben. Ein kleinerer Abstand zwischen den Wortbestandteilen („auf s“ usw.) wird nicht als Getrenntschreibung aufgefasst.
  • Bei deutlichem Wortabstand wird trotz durchgezogener Buchstabenverbindung Getrenntschreibung wiedergegeben.
  • Handschriftliche Geminationsstriche werden stillschweigend aufgelöst.
  • Die Ligatur ck wird als Buchstabenkombination ck transkribiert, auch wenn nur der Buchstabe k vorhanden, aber in seiner ligaturspezifischen Form ausgeprägt ist.
  • Die Normalform der handschriftlichen Klammer wird mit runden Klammern wiedergegeben. Sonderformen (z. B. eckige Klammern) bleiben gewahrt.
  • Die Suspensionsschleife wird in den Transkriptionsdaten von anderen Abkürzungszeichen unterschieden, aber nicht mimetisch nachgebildet.
  • Kurzschriftzeichen (auch konventionelle oder schreibertypische Symbole) werden wiedergegeben, wenn sie eine adäquate Entsprechung in modernen Zeichensätzen haben.
  • Sind in flüchtigen Entwürfen Wörter und Wortteile nicht mit distinkten Buchstaben, sondern mit unspezifischen Strichen realisiert, werden diese mit der entsprechenden Folge distinkter Buchstaben wiedergegeben.
  • Unsichere Lesungen werden als solche gekennzeichnet, unterschieden in Lesungen mit höherer und geringerer Wahrscheinlichkeit (wahrscheinlich / möglicherweise).
  • Nicht entzifferte Zeichen werden mit (in vernünftigem Rahmen) möglichst genauer Umfangsangabe markiert.
  • Editorische Ergänzungen sind als solche gekennzeichnet. Ergänzt werden einzelne Zeichen, die durch Rasur oder Beschädigung verloren gegangen oder unlesbar geworden sind, sowie Zeichen, die in flüchtigen Niederschriften durch den Kontext vorgegeben, aber nicht realisiert sind (zu unterscheiden von Schreibversehen, s.o.). Nicht ergänzt werden ganze Zeilen, Zeilenanfänge oder -enden, die infolge von Beschädigung oder Fragmentierung verloren gegangen sind.
  • Fehlende Umlautzeichen werden nicht ergänzt.

Wiedergabe des handschriftlichen und typographischen Erscheinungsbilds

Folgende Schriftarten werden unterschieden:

  • in Handschriften: deutsche Kurrent-, Fraktur- und Kanzleischrift, lateinische und griechische Schreibschrift
  • in Drucken: Fraktur, Schwabacher, Antiqua

Bei Handschriften werden schreibende Person, Schreibmaterial und Schriftart stellengenau festgehalten. Bei Drucken werden die vorkommenden Schriftarten in der Zeugenbeschreibung vermerkt. Der Genauigkeitsgrad der Beschreibung richtet sich jeweils nach den textkritischen Erfordernissen.

Überschriften, Sprecherbezeichnungen etc. werden als solche gekennzeichnet. Die Form der typographischen oder handschriftlichen Markierung (Mittigkeit, Unterstreichung, erhöhter Schriftgrad, Sperrsatz, Type etc.) wird nicht festgehalten.

Dasselbe gilt für Strophen und andere Versgruppen: Abstand oder Erstzeileneinzug am Anfang von Strophen und Versgruppen wird nicht festgehalten, Einrückung einzelner oder mehrerer Verse gegenüber anderen Versen nur dann, wenn diese auf ein Textmerkmal verweist (Refrain o.ä.).

Hervorhebungen im laufenden Text werden als solche gekennzeichnet. Die Form der Hervorhebung (Unterstreichung, Sperrsatz, Schwabacher etc.) wird nicht festgehalten.

Lateinische Schrift innerhalb von deutscher Schrift und Antiqua innerhalb von Fraktur wird als Auszeichnung analog zur Hervorhebung behandelt. Die Schriftart (lateinische Schrift bzw. Antiqua) wird als Form der Hervorhebung zusätzlich kenntlich gemacht.

Wiedergabe der Varianten innerhalb von Zeugen

Handschriftliche Varianten werden im Rahmen der Zeugenwiedergabe vollständig aufgenommen, insoweit sie sich mit dem editorischen Zeicheninventar abbilden lassen.

Varianten umfassen mindestens ein Wort oder ein Interpunktionszeichen.[6] Der Umfang der Verzeichnung richtet sich nach dem Umfang des varianten Textes.

  • Fallen Streichungen zu lang oder zu kurz aus, wird dies i.d.R. nicht berücksichtigt; dasselbe gilt für redundante erneute Niederschrift von textidentischen Anschlusswörtern.
  • Wenn eine Streichung, gefolgt von textidentischer Neuniederschrift, keine Tilgung bedeutet, sondern z.B. nur die Änderung der Versabteilung, wird auch nur die Änderung der Versabteilung festgehalten. Bei Streichungen von kurzen Ansätzen ohne Abstand, Einrückung etc., unmittelbar gefolgt von textidentischer erneuter Niederschrift mit Abstand, Einrückung etc., wird nur die erneute Niederschrift aufgenommen.
  • Interpunktionszeichen am Ende einer Änderung werden nur dann einbezogen, wenn sie geändert werden. Wenn Interpunktionszeichen ohne nachfolgende Änderung mitgestrichen oder unverändert erneut niedergeschrieben sind, wird keine Änderung verzeichnet.
  • Änderungen der Interpunktion werden ohne Einschluss des vorhergehenden Worts zeichenweise festgehalten.

Schreiberhand, Schreibmaterial und Schriftart bei Varianten werden festgehalten. Die Form von Tilgungen und der Ort von Einfügungen werden i.d.R. nicht festgehalten. Einfügungen in bestehende Lücken (zuvor freigelassene Zeilen, freigelassener Raum innerhalb von Zeilen) werden als solche gekennzeichnet.

Monierungen, Vorschläge zur Änderung, deren Billigung, Ablehnung oder Zurücknahme sowie die Bestätigung von Bleistiftänderungen durch Nachziehen mit Tinte werden festgehalten.

Sofortrevisionen werden als solche gekennzeichnet.

Zusammenhänge zwischen Änderungen werden festgehalten. Hierunter werden Zusammenhänge verstanden, die aufgrund syntaktischer und metrischer Regeln und meist innerhalb desselben Verses feststellbar sind. Diese ‚Verbände‘ sind somit lokal eng begrenzt.[7] Infolgedessen verbleiben sie innerhalb des Rahmens der stellenbezogenen ‚absoluten Chronologie‘ und gehen in den meisten Fällen keine Verbindungen zu anderen ‚absoluten Chronologien‘ ein, so dass sich keine übergreifende ‚relative Chronologie‘ im Sinne Backmanns ergibt.[8] Auch materiell unterscheidbare Schreibschichten erlauben normalerweise keine Schlüsse auf durchlaufende ‚Zwischenfassungen‘ gesamter Handschriften.[9] In Einzelfällen ist die Rekonstruktion früherer Gesamtzustände von Handschriften möglich (Beispiel: Gedichthandschrift H5 im Zustand der Verwendung als Vorlage des Drucks in N) oder von Interesse (Beispiel: Divan-Handschrift e im Zustand vor der Bearbeitung durch C.W. Göttling).[10] Hintergrund solcher Versuche sind jeweils spezifische textgeschichtliche Verhältnisse und textkritische Fragestellungen im Unterschied zu textgenetischen Ansätzen, wie sie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts für anders geartete Überlieferungsverhältnisse, etwa an Conrad Ferdinand Meyer und Georg Heym, entwickelt wurden.

Detaillierte Festlegungen darüber, wie die genannten Phänomene in den Primärdaten dokumentiert werden, enthalten die Regeln für die XML-Kodierung.

Bereich „Texte“

Ausgangslage und Zielsetzung

Die Frage nach einem philologisch fundierten Angebot von Texten für die erste Lektüre wie auch die vertiefte Befassung stellt sich nicht nur in Bezug auf einzelne lyrische Texte und lässt sich daher im Rahmen einer isolierten Behandlung einzelner Gedichte auch nicht umfassend beantworten. Grund dafür ist die Entstehung von Gedichten als Teil von originären Gedichtsammlungen (Römische Elegien, Venezianische Epigramme u.a., West-östlicher Divan) sowie die nachträgliche (sekundäre) Zusammenstellung unabhängig vom jeweiligen Ursprung der Gedichte (Gedichtsammlungen in den Werkausgaben 1789–1828). Die Gedichttexte vom Kontext der Sammlungen entkoppelt zu präsentieren hieße zugleich, eine (nicht nur) werkpolitisch verkürzte Rezeption zu begünstigen. Dies gilt besonders für die erstgenannten originären, potentiell aber auch für die nachträglich komponierten Sammlungen, wenn die kanonische Fassung eines Gedichts aus einer solchen Sammlung stammt (paradigmatischer Fall: Gedicht mit der Überschrift „Ein gleiches“, das erst durch den Sammlungskontext als Wandrers Nachtlied ausgewiesen ist). Gedichtsammlungen sind somit in mehrfacher Hinsicht editorisch relevant: als historisch dominantes Medium der Überlieferung und Rezeption, als Träger und Präger von Paratext (Rubrikentitel, Mottogedichte, korrespondierende und dafür angepasste Titel etc.), Einflussfaktor für die Textgestalt und als Ausgangspunkt für eine überlieferungsbasierte Einteilung und Anordnung des Corpus.

Eine chronologische Anordnung der Texte ist demgegenüber editorisch konstruiert und von teils unsicheren Datierungshypothesen abhängig, bietet dafür aber die Möglichkeit, Goethes lyrisches Schaffen historisch zu überschauen, und ist der geeignete Ausgangspunkt für eine entstehungsgeschichtlich perspektivierte Beschäftigung mit den Gedichten. Um beide Zugänge zu ermöglichen – ausgehend von den Sammlungen und von der Chronologie –,[11] bietet die Edition zwei alternative Zugänge zum Corpus der Texte.

Bereich „Texte“, Teil „Sammlungen“

Der Teil „Sammlungen“ bietet das Textcorpus ausgehend von Goethes Sammlungen, orientiert an den oben umrissenen Überlieferungsgruppen:

  1. Gedichtsammlungen in Gesamtausgaben (Textgrundlage: Erstdruck in den Gesamtausgaben)
    • Vermischte Gedichte 1789 (S 8)
      1. Erste Sammlung
      2. Zweyte Sammlung
    • Sammlung von 1815 (B 1 und 2)
      1. Zueignung
      2. Lieder
      3. Gesellige Lieder
      4. Balladen
      5. Elegien. I
      6. Elegien. II
      7. Episteln
      8. Epigramme, Venedig 1790
      9. Weissagungen des Bakis
      10. Vier Jahreszeiten
      11. Sonette
      12. Cantaten
      13. Vermischte Gedichte
      14. Aus Wilhelm Meister
      15. Antiker Form sich nähernd
      16. An Personen
      17. Kunst
      18. Parabolisch
      19. Gott, Gemüth und Welt
      20. Sprichwörtlich
      21. Epigrammatisch
    • Sammlung von 1827/28 (C 3 und 4)
      1. Lyrisches
      2. Loge
      3. Gott und Welt
      4. Kunst
      5. Epigrammatisch
      6. Parabolisch
      7. Aus fremden Sprachen
      8. Zahme Xenien
      9. Inschriften, Denk- und Sende-Blätter

    Die Vermischten Gedichte von 1789 sind die erste repräsentative Gedichtsammlung, die Goethe im Rahmen einer Werkausgabe anlegte.[12] Die Sammlung von 1815 (B 1 und 2) und deren Fortsetzung in der Ausgabe letzter Hand (C 3 und 4) repräsentieren gemeinschaftlich die vollständig entwickelte Form der späteren, auf Rubriken basierenden Anordnung, die in den Neuen Schriften (1800) erstmals auftritt und von da an schrittweise erweitert und modifiziert wird. Mit den Vermischten Gedichten von 1789 sowie den Sammlungen von 1815 und 1827/28 umfasst dieser Abschnitt nicht alle Gedichtsammlungen in Gesamtausgaben, sondern eine Auswahl, um den Abschnitt überschaubar und mehrfache Wiedergaben derselben Gedichte in Grenzen zu halten. Die Sammlungen der Neuen Schriften (1800), der Werke (1806) sowie die Wiederholung der Sammlung von 1815 in Band 1 und 2 der Ausgabe letzter Hand (1827) sind im Bereich „Archiv“ greifbar.

  2. Gedichtsammlungen außerhalb der Gesamtausgaben (Textgrundlage: Erstdruck, im Fall unveröffentlichter Sammlungen die Handschrift)
    1. Annette (1767)
    2. Neue Lieder (1769)
    3. Erste Weimarer Gedichtsammlung (1778)
    4. Römische Elegien (1795)
    5. Venezianische Epigramme (1795)
    6. Xenien (1796)
  3. Gedichte außerhalb der Gedichtsammlungen (Textgrundlage: Erstdrucke)
  4. Gedichte aus dem Nachlass (Textgrundlage: letzte vom Autor herrührende Fassung)
  5. Gedichte zweifelhaften Ursprungs (Textgrundlage: früheste nachweisbare Fassung)
  6. West-östlicher Divan (Textgrundlage: Fassung des ‚Neuen Divans‘ e/E2)

Bereich „Texte“, Teil „Zeitliche Folge“

Der Teilbereich „Zeitliche Folge“ bietet Texte sämtlicher Gedichte geordnet nach dem Zeitpunkt der Entstehung. Die Anordnung beruht auf Annahmen über Entstehungszeitpunkte und ist insofern nicht überlieferungsbasiert. Zudem hebt sie in der Überlieferung gegebene Sequenzen auf, wenn die angenommene Chronologie dies erforderlich macht. Im Unterschied zum Teil „Sammlungen“ erscheinen die Gedichte hier in der Regel nicht in der Gestalt von Goethes nachträglichen Zusammenstellungen, sondern jeweils in früher Fassung. Textgrundlage ist jeweils die früheste abgeschlossene handschriftliche oder gedruckte Fassung. In besonderen Fällen ist die Wiedergabe zweier Fassungen desselben Gedichts an chronologisch unterschiedlichen Stellen möglich.

Bereich „Texte“, Textbehandlung

Die im Bereich „Texte“ („Sammlungen“ und „Zeitliche Folge“) gebotenen Fassungen basieren auf den angegebenen Zeugen und sind somit jeweils historisch eindeutig situiert.[13] Sie geben die zugrundeliegenden Zeugen zeichengetreu wieder. Visuelle Einheiten der Sammlungsbildung bleiben gewahrt. Handschriftliche Änderungen sowie Merkmale, die nur der Typographie des jeweiligen Drucks oder der handschriftlichen mise en page angehören, werden nicht wiedergegeben.[14] Die Fassungen im Bereich „Texte“ sind mit dem Text der zugrundeliegenden Zeugen identisch, von der markierten Korrektur offensichtlicher Textfehler abgesehen (1. Stufe).[15] Im Zuge der Erschließung und Analyse der Gesamtüberlieferung werden textkritische Probleme identifiziert und kommentiert (2. Stufe).[16] Eine ergebnisoffene Diskussion dieser Probleme mit der editionswissenschaftlichen Community lotet dann die offenstehenden editorischen Verfahrensweisen aus (von der Wahl der Textgrundlage bis zu Möglichkeiten kritisch bearbeiteter Texte) und setzt diese in der Edition um (3. Stufe). Im Ergebnis soll die Edition das historische und methodische Zustandekommen der Texte transparent machen. Durch ein bislang unerreichtes Maß an historischer Treue und Transparenz unterscheiden sich die im Bereich „Texte“ gebotenen Fassungen sowohl von anderweitig frei verfügbaren, aber wissenschaftlich unkontrollierten Fassungen, als auch von den etablierten Studienausgaben.

Textfassungen im Bereich „Wissen“

Der Bereich „Wissen“ aggregiert zu jedem Gedicht (allgemeiner: zu jedem Text des Corpus) die Gesamtheit der auf ihn bezogenen und in der Edition verfügbaren Informationen. Die Ansicht zum jeweiligen Gedicht führt dabei sowohl die im Bereich „Texte“ gebotenen Fassungen als auch die Gesamtheit der historisch überlieferten Fassungen zusammen. Dabei wird die frühe Fassung jeweils zuerst angezeigt, ohne eine davon als priorisiert erscheinen zu lassen. Das direkt sichtbare Angebot aller übrigen Fassungen sowie von Vergleichsansichten kontextualisiert jede Fassung als Teil einer komplexen Textentwicklung, deren Nachvollzug im Bereich „Archiv“ offensteht.